Lese-Rechtschreib-Schwäche

Bedeutung des mündlichen Erzählens für die Textkompetenz

Wenn Kinder bei Schuleintritt mit dem Schriftspracherwerb konfrontiert werden, sind in der Regel ihre mündlichen Sprachfertigkeiten schon so weit entwickelt, dass ihnen diese kognitiv anspruchsvolle Anforderung gut gelingt.

Von Marleen Dudjahn, Leiterin des Fachbereichs Deutsch/Englisch der Duden Institute für Lerntherapie
Wenn Kinder bei Schuleintritt mit dem Schriftspracherwerb konfrontiert werden, sind in der Regel ihre mündlichen Sprachfertigkeiten schon so weit entwickelt, dass ihnen diese kognitiv anspruchsvolle Anforderung gut gelingt.
Bei einigen Kindern liegen jedoch Schwierigkeiten im Spracherwerb vor, die sich negativ auf das Erlernen des Lesens und Schreibens auswirken. Die sprachlichen Probleme sind häufig vielfältiger Natur. So können beispielsweise Probleme auf der Lautebene zu Schwierigkeiten beim Erlernen von Vorläuferfähigkeiten des Schriftspracherwerbs (phonologische Bewusstheit) und von Buchstaben-Laut-Beziehungen führen. Dieser Bereich findet bereits in der sprachlichen Förderung in Kitas, Vorschulen sowie im Erstlese- und Schreibunterricht Beachtung.
Weniger im Fokus stehen dahingegen Auffälligkeiten im grammatischen Bereich, das heißt etwa im Verständnis und in der Bildung von grammatisch komplexen und korrekten Sätzen und Formen (z. B. die Konjugation von Verben, Bildung von Mehrzahl und Kasus).
Schwierigkeiten im Bereich der Erzählkompetenz wirken sich oft erst später aus
Wenn Auffälligkeiten in diesem Bereich nicht zu groß sind, können die meisten Kinder sie gut kompensieren, sodass diese auch nicht immer offensichtlich zutage treten und sich nicht unbedingt auf die Anfangsphase des Schriftspracherwerbs negativ auswirken. Meist werden Probleme in diesem Bereich dann erst zu einem späteren Zeitpunkt sichtbar, wenn die Schüler längere und komplexe Sätze und Texte lesen und schreiben müssen.
Neben der Beachtung von orthografischen Besonderheiten stellt das Schreiben von Texten aus vielen Gründen für den Lernenden eine Herausforderung dar: Damit der Text für den Leser verständlich ist, sollte er einer bestimmten Struktur folgen (Einleitung der Personen und des Geschehens, Hauptteil, Schluss). Die Sätze müssen vollständig sein und sich sinnvoll aufeinander beziehen. Sind Kinder schon auf mündlicher Ebene nicht in der Lage, eine Geschichte oder eine Erzählung sinnvoll aufzubauen und wiederzugeben, wird es ihnen auch auf schriftsprachlicher Ebene nicht gelingen, da die Anforderungen hier im Vergleich zur mündlichen Ebene noch größer sind.
Qualität der mündlichen Erzählungen ist ein Prädiktor für den späteren Schulerfolg
Beim mündlichen Erzählen haben die Kinder in der Regel einen direkten Adressaten, der bei Verständnisproblemen nachfragen kann - unvollständig formulierte Sätze kann er überhören oder aus dem Kontext heraus „reparieren“ und tolerieren. Dies gilt ebenso für Umschreibungen von Wörtern, wenn dem Kind das eigentlich gesuchte Wort gerade nicht einfällt. Auf schriftsprachlicher Ebene ist dies nicht gegeben. Die Förderung der mündlichen Sprachkompetenz ist daher eine unabdingbare Voraussetzung, um auch auf schriftsprachlicher Ebene erfolgreich zu sein.
Verschiedene Studien haben gezeigt, dass die „Qualität der Erzählungen von Kindern im Vorschulalter ein Prädiktor für den späteren Schulerfolg, für den späteren Wortschatzumfang und das Lese-Sinn-Verständnis sowie für schriftsprachliche bzw. mathematischen Leistungen ist“ (vgl. Ringmann, S. [2014]: Therapie der Erzählfähigkeit bei Kindern - eine Einzelfallserie. Logos, 1(22), 16-29).
Motivation entscheidend für die Entwicklung der Erzählkompetenz
Für die Entwicklung der Erzählkompetenz gibt es sicherlich verschiedene Wege, aus denen für das betroffene Kind der jeweils individuell geeignete ausgewählt werden muss. Die Förderung auf Gruppenebene in Kita und Schule, wie sie von „ErzählZeit“ angeboten wird, ist eine gut geeignete Methode, da sich diese Möglichkeit der Interaktion im Gruppensetting sehr motivationsfördernd auf die Kinder auswirkt.
Aufschreiben des Erzählten stellt oft eine große Hürde dar
In der Lerntherapie stoßen auch immer wieder Kinder mit Schwierigkeiten in der Erzählkompetenz zu uns. Unser Hauptaugenmerk liegt dann oft darin, den Transfer des Erzählten von der mündlichen auf die schriftliche Ebene zu begleiten und anzuleiten. Dabei spielt neben dem Erlernen des Handwerks, wie der Einhaltung des strukturellen Rahmens, dem Beachten von Rechtschreibregeln usw., vor allem die Motivation eine große Rolle. Denn für Kinder mit Lernproblemen stellt das Aufschreiben des Erzählten oft eine große Hürde dar. Daher müssen hier die besonderen Vorlieben und Interessen der Kinder beachtet werden.
Für Bela, eines unserer Kinder in der Lerntherapie, stellte beispielsweise ein Buch mit Bildern und einem kurzen, dazu passenden Geschichtenanfang einen großen Anreiz dar, diese weiterzuerzählen und dann aufzuschreiben. Dies motivierte ihn schließlich so sehr, dass er selbst Geschichtenanfänge schrieb, ein Bild dazu malte und es dann an andere Therapiekinder weitergab, die diese wiederum fortführten.(Lesen Sie hier die gesamte Geschichte.)
Textkompetenz baut auf Erzählkompetenz auf
Es wird also deutlich, dass Erzählkompetenz und Textkompetenz eng miteinander verknüpft sind. Man sollte daher bei Problemen auf textgrammatischer Ebene beim Schreiben immer auch einen Blick auf die mündliche Sprachebene haben. Nur wenn diese ausreichend entwickelt ist, sind Kinder in der Lage, sinnvoll strukturierte und gute schriftliche Texte zu verfassen. Deshalb kann bei Kindern mit Lernschwierigkeiten erst in der Folge damit begonnen werden, die Schriftkompetenz gezielt zu fördern.