von Dr. habil. Borghild Rehak
Lesen ist das Werkzeug für die Aneignung und Erweiterung von Wissen. Dies betrifft nicht nur das Fach Deutsch, sondern fast alle Fächer. Wer zu langsam, mit vielen Stockungen und Fehlern liest, schafft es in der Regel nicht, den Sinn des Gelesenen selbstständig zu erfassen und zu verarbeiten. Das Lernen anhand von Texten gelingt daher nicht. Pädagogische Erfahrungen verdeutlichen immer wieder: Kinder, die bis spätestens Mitte der 2. Klasse nicht sicher genug lesen können, sind in ihrer Lernentwicklung gefährdet. Für viele dieser Kinder mit Leseschwierigkeiten kann die Schule zu einem Ort des alltäglichen Versagens und sich häufender Misserfolge werden.
Insofern ist es nur allzu verständlich, dass sie alles daransetzen, dem Lesen aus dem Weg zu gehen. Durch dieses Vermeidungsverhalten geraten sie in einen Teufelskreis: Sie lesen keine Bücher, weil sie nicht lesen können, und sie können nicht lesen, weil sie keine Bücher lesen. Um diesem Dilemma zu entkommen, muss der Automatisierungsgrad ihres Lesens erhöht werden, sodass es flüssiger und müheloser vonstattengeht. Erst dann stehen den Kindern die notwendigen kognitiven Ressourcen für die eigentlich denkende Verarbeitung des Gelesenen zur Verfügung. Wie ist das zu erreichen? Die Antwort darauf lautet schlicht: durch Üben. Wie beim Spielen eines Instruments oder beim Ausüben einer Sportart verbessert sich die Automatisierung nur durch beharrliches und regelmäßiges Üben. Das klingt sehr einfach, ist es aber nicht. Denn es bedarf großer Anstrengungen, die Leseverweigerer zum Lesen zu motivieren, ihnen wirksame Antriebe für die anstrengenden Leseübungen zu geben.
Die Motivierung zum Lesen beginnt bereits bei der Textauswahl. Hierbei ist u. a. zu beachten: Umfang, Inhalt und sprachliche Gestaltung der Texte müssen zu den individuellen Lesefähigkeiten der Kinder passen. Die Texte sollten für sie interessant und attraktiv sein. Texte, die einen unmittelbaren „Gebrauchswert“ haben, werden von vielen leseschwachen Kindern zunächst bevorzugt. Zu solchen Texten gehören u. a. Beschriftungen von Produkten, Spiel- und Bastelanleitungen, Texte auf Spielkarten und in digitalen Spielen, Prospekte, Kataloge, Webseiten für Kinder, das Fernsehprogramm im Teletext, die E-Mails ihrer Freunde usw. Es ist wichtig, dass sich Lehrer und Eltern auf die veränderten Lesewelten der Kinder einstellen und das Textangebot um audiovisuelle und elektronische Medien erweitern.
Ein das Lesen anregendes Potenzial steckt auch in einem handelnden, produktiven Umgang mit Texten. Den Kindern bereitet es beispielsweise Freude, zerschnittene Texte zu rekonstruieren, ein anderes Ende oder eine Fortsetzung zu gelesenen Geschichten zu erfinden, zu Texten zu malen, einen Gegenstand zu basteln oder passende Lieder zu suchen. Besonders reizvoll ist es für sie, Texte mit spielbaren Handlungen szenisch umzusetzen, z. B. als Puppen-, Schatten- oder Hörspiel. Bei dieser Art von Textaneignung können die Kinder ihren Neigungen folgen und ihre Stärken in die Waagschale werfen. Der sich dabei ergebende Zusammenhang zwischen Lesen, Spielen und Fantasieren weckt positive Emotionen und lässt die Anstrengungen des Lesens etwas zurücktreten. Ein solcher Umgang mit Texten schließt ein, dass Textabschnitte oder sogar ganze Texte mehrfach gelesen werden müssen. Der Gewinn für die Leseentwicklung liegt auf der Hand: Das automatisierte Wiedererkennen von Wörtern wird geübt und damit die Leseflüssigkeit verbessert.
Auch das Führen eines Lesetagebuchs unterstützt die positive Entwicklung der Lesemotivation. Die Kinder tragen ein, was sie alles gelesen haben. Sie ergänzen ihre Einträge durch Zeichnungen und das Einkleben von Bildern und Textabschnitten (Kopien), die ihnen besonders gefallen haben. Dieses Lesetagebuch können sie Mitschülern oder Familienmitgliedern vorstellen und mit ihnen über das Gelesene sprechen.
Auch für das übende Lesen trifft die alte pädagogische Weisheit zu: Nichts motiviert mehr als der Erfolg. Weil die Kinder mit Leseschwierigkeiten innerhalb ihrer Klasse noch lange Zeit zu den schwachen Lesern gehören und daher ihre Übungserfolge oft nicht bemerken, ist es wichtig, ihnen ihre Lesefortschritte bewusst zu machen. Das kann u. a. so erfolgen: Die Kinder lesen einen Text laut. Die Anzahl der von ihnen pro Minute gelesenen Wörter wird erfasst und festgehalten. Zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt eine Wiederholung des Verfahrens mit demselben Text. Die in beiden Leseproben ermittelten Werte werden miteinander verglichen. Der Erfolg wird dem Kind so an konkreten Fakten deutlich. Das motiviert zum Weitermachen, was wiederum zu einer Verbesserung der Leseleistung führt. Dem Kind kann es so gelingen, dem Teufelskreis zu entkommen, sein Vermeidungsverhalten abzubauen und in seiner Lernentwicklung voranzuschreiten.