Pädagogik und Psychologie

Emotionen und Systeme … und Fragen des Lernens

Dr. Jens Bienioschek beschreibt seine Eindrücke anlässlich des Kongressbesuchs der 15. wissenschaftlichen Jahrestagung der DGSF, die unter dem Motto "Simply emotional – simply systemic. Wie Gefühle Systeme bewegen“ stand.

Gedanken eines Lerntherapeuten anlässlich eines Kongressbesuchs

von Dr. Jens Bienioschek, wissenschaftlicher Leiter des Duden Instituts für Lerntherapie Berlin-Reinickendorf

Zu einer integrativen Lerntherapie gehören auch viele Elemente aus der systemischen Therapie. Deshalb interessiert uns Lerntherapeuten natürlich sehr, was die Berufsgruppe der systemischen Therapeuten umtreibt. Dies veranlasste mich die 15. wissenschaftliche Jahrestagung der DGSF in Magdeburg zu besuchen.

Die „Deutsche Gesellschaft für systemische Therapie, Beratung und Familientherapie“ ist neben der SG (Systemische Gesellschaft) einer der beiden großen Dachverbände der systemischen Therapeuten bzw. Familientherapeuten. Schon das Motto der Tagung „Simply emotional – simply systemic. Wie Gefühle Systeme bewegen“ spricht uns als Lerntherapeuten sofort an: Denn wir machen täglich die Erfahrung, dass wir mit unseren Therapiekindern nicht nur Zahlvorstellungen aufbauen oder Rechtschreibstrategien erarbeiten, sondern dass das Thema Lernschwierigkeiten die ganze Familie, das ganze „System“ betrifft. Wie binden wir die Familien unserer Therapiekinder ein? Welche Rolle spielen Gefühle in Lernprozessen: bei den Therapiekindern, bei den Eltern, aber auch bei und in uns?

Mit der festen Überzeugung, dass, wenn sie gut gemacht wird, keine Arbeit „systemischer“ wäre als unsere lerntherapeutische, machte ich mich in Magdeburg auf die Suche nach systemischen Anregungen, die in der Arbeit mit Therapiekindern, in Elternberatungen oder im Austausch mit Lehrern hilfreich sein könnten. Eine erste grobe Orientierungshilfe bei meiner Suche nach für lerntherapeutische Zwecke Sinnvollem und Nutzbarem gab – glücklicherweise gleich zu Beginn – Professor Wilhelm Schmid. Er philosophierte darüber, dass es in der modernen Welt mehr denn je darauf ankäme, selbst „dem Leben Sinn zu geben“. Aber wie und wo sei der zu finden? Oder komme es vielmehr darauf an, in der Suchbewegung zu bleiben und gerade dadurch „Gelassenheit“ zu entwickeln? Gelassenheit – ein gutes Stichwort, wenn sicherlich auch aktuell überstrapaziert, auch ein gutes Leitmotiv für den Lerntherapeuten im Umgang mit den Kindern, den Eltern, den Lehrern, manchmal auch mit sich selbst und den eigenen Ansprüchen.

Professor Matthias Varga von Kibed, live aus den Vereinigten Staaten zugeschaltet, sprach darüber, wie produktiv es sei, Menschen und auch sich selbst weniger als „Besitzer“ von Handlungen und Gefühlen zu betrachten („Ich habe das Gefühl, dass ...“), sondern eher als „Orte ihrer Manifestation“. (Negative) Gefühle würden dann zu „Gästen“, die kommen und gehen. Ich glaube, dass diese Sichtweise u. a. für Eltern eines Kindes mit Lernschwierigkeiten, die sich große Sorgen machen, nützlich sein kann. Gelingt es ihnen, solche Gefühle eher als „Gäste“ aufzufassen, denen man nicht erlauben muss, sich zu lange und unverschämt breitzumachen, so bringt das Entlastung und verbessert ganz wesentlich die Voraussetzungen für die fachliche Arbeit. Und wenn konkrete Lernfortschritte mit der Zeit zu positiven Gefühlen beim Kind und bei den Eltern führen, dann ergibt sich für das ganze System ein Modell von Veränderbarkeit.

Professor Eia Asen aus London referierte am Beispiel der Multifamilientherapie, wie wichtig es sei, sich selbst öfter von außen, dafür andere eher von innen zu sehen. Als Anspruch ist dies nicht nur auf uns Lerntherapeuten direkt übertragbar, etwa auf die Therapeutin, die sich über eine Lehrerin ärgert, weil diese ihrer Meinung nach nicht ausreichend mitwirkt. Auch Eltern, denen es schwerfällt, Verständnis z. B. für die Matheprobleme ihrer Tochter zu entwickeln, können diesen Blickrichtungswechsel ausprobieren: „Wie mag es für Lisa aussehen, wenn ich mich so vor ihr aufbaue, um mit ihr zu sprechen? Wie wird es sich für sie anfühlen, so etwas von mir zu hören?“

Da der Kongress schon dem Titel nach auf Emotionen abhob, entschied ich mich, neben den Vorträgen auch einen Workshop von Thomas Reyer mit dem Titel „Was macht das mit dem Therapeuten? Das eigene Bauchgefühl wahrnehmen und nutzen“ zu besuchen. Hier ging es nicht (wie ja meistens) um Worte, die konsumiert und verarbeitet werden wollten. Vielmehr wurden die Teilnehmer direkt in eine Vielzahl praktischer Übungen in unterschiedlichen Gruppenkonstellationen einbezogen.

So saßen sich etwa zwei (nicht miteinander bekannte) Teilnehmer gegenüber: Der eine sollte an einen Klienten und dessen „Problem“ einfach nur denken, der andere beobachtete währenddessen die Körpersprache und die Mimik des Ersten. Nach drei Minuten schilderte der Beobachter seine Wahrnehmungen und berichtete, wie er sich selbst gefühlt und welchen unmittelbaren körperlichen Impuls er verspürt habe. Faszinierend: Während der Beobachtete am Ende darüber staunte, wie genau sein Körper über den „Fall“ Bericht erstattet hatte, konnte der Beobachtende im Prozess sich einmal ganz auf die nonverbale Ebene konzentrieren und dort die „eigentliche Botschaft“ abholen. Gerade Kinder neigen ja dazu, Botschaften weniger durch Worte als durch Handlungen und Körpersprache auszudrücken – bei dieser Übung wurde deutlich, was der Therapeut verschenkt, der diese Signale nicht sieht.

Nimmt man alles zusammen, dann gab es für uns Lerntherapeuten in Magdeburg eine Menge Erkenntnisse und Erfahrungen zu sammeln. Praktisch kommen in Lerntherapien ja immer fachdidaktische und systemische Elemente zusammen. Der Blick zu den Kollegen aus der Familientherapie schärft die systemische Perspektive, ermuntert zu ständiger Reflexion über eine förderliche Haltung und sorgt für eine breitere Palette an konstruktiven Techniken.

Weitere Informationen
www.dgsf.info