Dr. Britta Büchner, Dr. David Gerlach
Moderner Unterricht setzt weiterhin formale Arten der Leistungsüberprüfung ein, also Tests oder Klassenarbeiten. Diesen können Schülerinnen und Schüler mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten nur selten gerecht werden. Obwohl sie im Unterricht alles Wesentliche begriffen haben, können sie Aufgabentexte in Klassenarbeiten nicht korrekt verstehen oder nicht in einem zusammenhängenden Text beantworten. Die üblichen schriftlichen Formen der Leistungsbewertung stellen große Hürden dar und machen in der Praxis meist 50 Prozent der Schulnoten am Halbjahres- und Schuljahresende aus.
Nachteilsausgleich
Schulrechtliche Möglichkeiten zum Nachteilsausgleich versuchen, dies aufzufangen. Diese basieren weitgehend auf Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK 2007), sind in der Gesetzgebung der einzelnen Bundesländer aber sehr unterschiedlich umgesetzt. In diesem Beitrag können wir keine Übersicht über alle diese Regelungen und daher auch keine allgemeingültige Empfehlungen, sondern lediglich einige Anregungen geben. Die Schulgesetze lassen oft einen relativ großen pädagogischen Ermessensspielraum, sodass Nachteilsausgleich individuell eingesetzt und an die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler angepasst werden kann.
Gebräuchliche Formen des Nachteilsausgleichs sind u. a.:
Der Einsatz dieser Mittel sollte an das Begabungsprofil der Lernenden angepasst werden: Ein ohnehin eher ruhiger Schüler wird sich schwertun, durch die stärkere Gewichtung seiner mündlichen Note einen Ausgleich zu seinen Klassenarbeiten zu erreichen. Dieses Kind könnte aber bei entsprechender Vorbereitungszeit zu Hause möglicherweise durchaus eine ansprechende und detaillierte Präsentation ausarbeiten, einüben und der Klasse vorstellen.
Auch können Formen des Nachteilsausgleichs ausprobiert werden, um dann im Folgehalbjahr eine Alternative anbieten oder nachsteuern zu können. Die Schülerinnen und Schüler wissen dabei häufig selbst, was für sie umsetzbar ist und was nicht. Lernentwicklungsgespräche – z. B. auch im Beisein der Eltern oder (wenn vorhanden) von Förderkräften/Lerntherapeuten – können unterschiedliche Perspektiven und gemeinsame Möglichkeiten entwickeln. Es gibt dabei verschiedene Formen von Leistungserbringung, die im Unterricht – auch für die anderen Schülerinnen und Schüler – integriert und genutzt werden können, ohne dass die Ansprüche der Feststellung zentraler Leistungen (insbesondere in bestimmten Schulformen) sinken.
Alternative Formen der schriftlichen Leistungsbewertung bei Lernschwierigkeiten
Will oder kann man nicht auf die Möglichkeit zurückgreifen, Zensuren fürs Lesen und Rechtschreiben ganz auszusetzen, können alternative Formen der Leistungsbewertung zu einer gerechteren Prüfungsform beitragen. Es gibt dabei verschiedene Formen von Leistungserbringung, die im Unterricht – auch für die anderen Schülerinnen und Schüler – integriert und genutzt werden können, ohne dass die Ansprüche der Feststellung zentraler Leistungen sinken.
Mit alternativen Formen der Leistungsbewertung sind in der Regel prozessorientierte Verfahren gemeint. Es sind daher meist freiere Formen schriftlicher Leistungen, die stichprobenartig Einblicke in Lern- und Arbeitsprozesse geben sollen. Entstanden sind sie nicht nur aus der konstruktivistischen Lerntheorie heraus, sondern auch als Reaktion zur weiterhin kontrovers diskutierten Sinnhaftigkeit von Ziffernnoten, da die Bewertung in der Regel durch Kommentierungen oder neue bzw. erweiterte Aufgabenstellungen erteilt wird (Winter 2004; Brunner, Häcker & Winter 2006; Biermann & Volkwein 2010; auch: www.portfolio-schule.de).
Präsentationen
Die einfachste Form sind die wohlbekannten Präsentationen oder Referate, bei denen Schülerinnen und Schüler zeigen können, dass sie in der Lage sind, ein Thema selbstständig zu erfassen, konzeptuell aufzuarbeiten und vor der Klasse angemessen zu präsentieren. Für Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten ist dies häufig eine angemessene Methode, ihre Fähigkeiten zu zeigen. Sie müssen dabei nicht unter Zeitdruck schreiben und lesen, sondern können mit einer guten Vorbereitung ebenso gut wie ihre Mitschülerinnen und -schüler agieren. Viele ansonsten eher misserfolgsorientierte Kinder können hier Mut fassen und sich selbst Mut machen: „Ich glaube, so eine Präsentation kann ich schon schaffen ...“
Lern- und Lesetagebücher
Lesetagebücher begleiten beispielsweise die Lektüre im Deutschunterricht mit bestimmten Pflicht- und/oder Wahlaufgaben, die die Schülerinnen und Schüler bearbeiten können. Sie lassen sich dabei auch ganz bewusst um den schriftlichen Anteil reduzieren, z. B. werden Charakterisierungen einzelner Protagonisten auch nach Art einer „Mindmap“ erarbeitet und zusammengestellt, anstatt dies in Form eines Fließtexts zu verarbeiten.
Lerntagebücher gehen häufig einen Schritt weiter, indem sie die Lernenden auch über ihren Lernprozess an sich reflektieren lassen. (Sie eignen sich daher aus entwicklungspsychologischer Sicht erst für ältere Lerngruppen, müssen selbst dann aber häufig auch noch mit vorstrukturierenden Reflexionsimpulsen/-fragen gestützt werden.)
Portfolio
Das Portfoliokonzept ist umfassender und umfangreicher als das der Lern- und Lesetagebücher. Beim Portfolio werden mehrere verschiedene Produkte oder Lernprozesse im Rahmen einer Mappe gesammelt und dokumentiert. Brunner, Häcker & Winter (2006) sowie Biermann & Volkwein (2010) stellen verschiedene Ausgestaltungsmöglichkeiten für Portfolios vor, die es erlauben, für Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten differenzierte Angebote zu schaffen.
Wenn die technischen Möglichkeiten vorhanden sind, können Computer als Hilfsmittel eingesetzt werden, um elektronische Portfolios anzulegen. So lassen sich auch in Kooperation mit Mitschülerinnen und Mitschülern gemeinsame Lernprozesse und -produkte initiieren und erarbeiten. Es können anstatt längerer Schreibtexte beispielsweise auch per Smartphone aufgesprochene Antworten, kurze Videos oder Grafiken integriert und zur Grundlage von Leistungsbewertung gemacht werden.
Zu allen hier vorgestellten Konzepten gehört, dass die Ansprüche und Anforderungen (insbesondere auch bei differenzierten bzw. individualisierten Aufgabenstellungen) jeweils transparent gemacht werden und das Projekt (Lese- oder Lerntagebuch bzw. Portfolio) nicht nur als Hausaufgabenmappe genutzt, sondern immer wieder explizit zum Gegenstand des Unterrichts gemacht wird.
Beim Nachteilsausgleich und bei alternativen Leistungsüberprüfungen hat es sich bewährt, diese Maßnahmen individuell an die betroffenen Schülerinnen und Schüler anzupassen. In einigen Fällen können sie aus Gründen der Effizienz und, um Synergieeffekte zu erreichen, auf eine gesamte Lerngruppe übertragen werden. Ein häufig angesprochenes Bedenken beim Einsatz des Nachteilsausgleichs, dass nämlich andere Lernende sich durch eine vermeintliche „Sonderbehandlung“ einzelner Schülerinnen und Schüler benachteiligt fühlen, kann meist durch einen offenen und transparenten Umgang mit den Herausforderungen und Lernschwierigkeiten in der gesamten Klasse entgegengewirkt werden.
Auch wenn dies manchen überraschen mag: Die persönliche Einschätzung der Schülerinnen und Schüler, was für sie selbst erfahrungsgemäß am besten geeignet ist, um ihre Leistungen zu erheben und zu bewerten, ist eine der wichtigsten Komponenten, um im schulischen Kontext Bewertungssituationen gerechter und individuelle Voraussetzungen angemessener zu gestalten.
Literatur
Biermann, Chr. & Volkwein, K. (Hg.) (2010). Portfolioperspektiven. Schule und Unterricht mit Portfolios gestalten. Weinheim/Basel: Beltz.
Brunner, I., Häcker, Th. & Winter, F. (2006). Das Handbuch Portfolioarbeit. Seelze-Velber: Klett Kallmeyer.
Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) (2008). Grundsätze zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben oder im Rechnen (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 04.12.2003 i. d. F. vom 15.11.2007). https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/BeschluesseVeroeffentlichungen/allgSchulwesen/304_Legasthenie.pdf [04.05.2017].
Winter, F. (2004). Leistungsbewertung. Eine neue Lernkultur braucht einen anderen Umgang mit den Schülerleistungen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Dr. Britta Büchner, Psychologiestudium und Promotion in München; seit über 15 Arbeit mit Kindern in eigener lerntherapeutischer Praxis. Vor knapp 15 Jahren Gründung des Online-Projekts LegaKids, seitdem Entwicklung zahlreicher Online-Lernspiele und Lehr- und Lernvideos für Kinder sowie einer kostenlosen Weiterbildungsplattform zum Thema Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten für Lehr- und Förderkräfte (alphaPROF).
Dr. David Gerlach vertritt aktuell die Professur für Englischdidaktik an der Universität Regensburg. Im Rahmen seiner Dissertation hat er ein Förderkonzept für Englischlernende mit LRS entwickelt (wordly), danach gemeinsam mit der LegaKids-Stiftung alphaPROF für Lehrerinnen und Lehrer (unterstützt u.a. von den Duden Instituten für Lerntherapie). Seine Forschungsschwerpunkte sind Inklusion und Lernschwierigkeiten im Fremdsprachenunterricht sowie Lehrerprofessionalisierung.