Sind Rechenschwäche und LRS Behinderungen?


Von Dr. Lorenz Huck, Diplom-Psychologe, Leiter des Fachbereichs „Integrative Elemente“ der Duden Institute für Lerntherapie

„Seelische Behinderung?“ – Wenn ich diese Formulierung in Beratungsgesprächen erwähne, beobachte ich oft, wie Eltern erstaunt einen Moment innehalten. Eine integrative Lerntherapie kann nur dann von der Jugendhilfe finanziert werden, wenn ein Kind von „seelischer Behinderung“ bedroht ist? Viele Eltern haben Schwierigkeiten, diesen Begriff mit dem positiven Bild zusammenzubringen, das sie – trotz unbestreitbar vorhandener Lernschwierigkeiten – von ihrem Kind haben.

Der Hintergrund dieser Schwierigkeiten ist, so vermute ich, dass das öffentliche Bild von Behinderung bzw. von Menschen mit Behinderungen durch wenige stereotype Beispiele geprägt ist: Geht es in den Medien um das Thema „Behinderung“, tauchen z. B. immer wieder Menschen auf, die im Rollstuhl sitzen, die von Trisomie betroffen oder die blind sind – Menschen, deren Behinderung (scheinbar) offensichtlich ist.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat 2001 mit der „Internationalen Klassifikation für Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) einen Begriff von Behinderung geprägt, der diese Beispiele umfasst, aber weit über sie hinausgeht: Behindert ist danach jeder Mensch, dessen „Teilhabe an der Gesellschaft“ massiv eingeschränkt ist. Um einzuschätzen, inwieweit dies der Fall ist, müssen ganz unterschiedliche Lebensbereiche betrachtet werden: Es geht darum, wie mobil ein Mensch im Alltag ist, wie selbstständig er sein Leben führen kann, ob er (Aus-)Bildungswege beschreiten und am Arbeitsleben teilnehmen, aber auch sein Wahlrecht und andere staatsbürgerliche Rechte in Anspruch nehmen kann.

Für Kinder und Jugendliche stellen sich diese Fragen anders: Ihre Beteiligungsmöglichkeiten sind nicht mit denen von Erwachsenen zu vergleichen. Sie sollten aber so gut sein, dass sie die besonderen Entwicklungsaufgaben bewältigen können, die dem jeweiligen Alter entsprechen. Ein Kind im Schulalter sollte z. B. in der Lage sein, sich die Kulturtechniken (Lesen, Schreiben und Rechnen) anzueignen, mit Gleichaltrigen zusammen zu arbeiten und zu spielen, um nach und nach seinen Aktionsradius auszuweiten.

Hat man sich so weit in die Definition von „Behinderung“ der WHO eingedacht, die auch für das deutsche Sozialgesetzbuch grundlegend ist, wird klar, wieso Kinder, die von einer Rechenschwäche oder Lese-Rechtschreib-Schwäche betroffen sind, in der Regel auch von Behinderung bedroht sind: Ohne besondere Unterstützung könnten sie die Kulturtechniken nicht oder nur zum Teil erwerben; ohne Unterstützung können sie viele Entwicklungsaufgaben nicht bewältigen – nicht alleine einkaufen gehen, keine Liebesbriefe schreiben, keine Spielanleitung vorlesen. Schließlich kann all dies zu sozialer Isolation führen, da diese Kinder mit ihren Altersgenossen, die sich nach und nach immer neue Lebensbereiche erobern, nicht mithalten können.

Es ist also durchaus angebracht, den Begriff der „(drohenden) seelischen Behinderung“ zu gebrauchen, wenn man von Kindern mit einer Rechenschwäche oder Lese-Rechtschreib-Schwäche spricht. Es geht dabei nicht darum, den Betroffenen einen Stempel aufzudrücken. Eine Behinderung ist ja generell keine Eigenschaft einer Person: Meine schwere Kurzsichtigkeit wird erst dann zu einer (Seh-)Behinderung, wenn mir – aus welchen Gründen auch immer – meine Brille fehlt. Ebenso werden auch Schwierigkeiten beim Rechnen-, Lesen- und Schreibenlernen erst zur Behinderung, wenn im Umfeld der Kinder die geeignete soziale und materielle Unterstützung fehlt – sonst lässt sich die Behinderung verhindern oder ist überwindbar. Es geht auch nicht darum, die Besonderheit oder Schwere anderer Arten von Behinderung herabzuwürdigen oder unterschiedliche Behinderungen gegeneinander abzuwägen, sondern einzig und allein darum, das Leiden der Betroffenen so weit wie möglich zu begrenzen.

Um eine Diskriminierung aufgrund einer Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Rechenschwäche zu verhindern, ist nicht nur die individuelle therapeutische Hilfe für Betroffene, sondern auch ein aufgeklärtes und verständnisvolles Umfeld von Bedeutung. Die enge und individuelle Zusammenarbeit mit den Eltern und der Schule ist daher ein fester Bestandteil der Lerntherapie in den Duden Instituten. Ebenso versuchen wir im Rahmen von Eltern- und Lehrervorträgen das gesellschaftliche Umfeld der Betroffenen für die Themen „Lese-Rechtschreib-Schwäche“ und „Rechenschwäche“ zu sensibilisieren.