Newsletter Ausgabe 01/2013: Interview


Anlässlich des Themenjahrs "Selbstbestimmt dabei. Immer." haben wir Christine Lüders, Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS), zu den Beweggründen des Themenjahrs und möglichen Maßnahmen gegen die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung befragt.

Was war der Anlass für das Themenjahr „Selbstbestimmt dabei. Immer.“? Welche Schwerpunkte und Ziele gibt es und warum?

Christine Lüders: Die meisten unserer Beratungsanfragen kommen von Menschen mit Behinderungen – allein das schon ist Beweggrund genug für uns, ein ganzes Jahr lang auf die Benachteiligungserfahrungen von behinderten und chronisch kranken Menschen zu schauen. Gemeinsam mit prominenten Botschafterinnen und Botschaftern wie Katarina Witt, Bobby Brederlow, Jochen Wollmert, Nina Ruge und vielen anderen veranstalten wir dazu im Herbst eine bundesweite Themenwoche mit Aktionen, Vorträgen und öffentlichkeitswirksamen Events.

Außerdem stellen wir konkrete Handlungsempfehlungen zu den Themen „Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt“, „Barrierefreie Dienstleistungen“ und „Chronische Krankheiten“ vor – ohne Ausnahme Themen, die aus unserer Sicht besonders drängen. Und wir wollen gute Praxis würdigen: von Unternehmen, die Vorbildliches bei der Integration behinderter und chronisch kranker Menschen leisten.

Diskriminierung entsteht oft durch Halbwissen oder gesellschaftliche Klischees. Viele sind zudem meist unsicher, wie sie sich gegenüber Menschen mit Behinderung verhalten sollen. Wie sollte oder kann hier die Aufklärungsarbeit aussehen?

Christine Lüders: Ganz wichtig ist es, aufzuklären. Etwa darüber, dass Behinderungen jeden Menschen treffen können. Mehr als 80 Prozent aller behinderten Menschen in Deutschland sind ohne eine Behinderung zur Welt gekommen. Erst im Laufe ihres Lebens sind sie krank geworden oder hatten einen Unfall.

Ein weiterer Bereich, an dem Aufklärung ganz wichtig ist, ist die Schule. Wenn wir Vorurteile abbauen wollen, dann müssen wir die Inklusion endlich vorantreiben – nicht nur in Kindergärten, sondern auch in Grundschulen und in der Sekundarschule. In einer von der ADS erhobenen Umfrage haben sich 40 Prozent der befragten jüngeren Menschen skeptisch darüber geäußert, dass Inklusion funktionieren kann, selbst wenn die Mittel dafür da sind. Das ist für uns ein Alarmsignal. Offenbar haben gerade Jüngere Vorbehalte gegen Menschen mit Behinderungen, weil der Umgang mit ihnen nicht alltäglich ist.

Welche Maßnahmen zur gleichberechtigten Teilhabe im Schul- und Arbeitsleben sollte es geben?

Christine Lüders: Wir erleben seit Jahren einen besorgniserregenden Trend: Immer mehr Menschen mit Behinderungen geraten in „Sonderwelten“ – erst die Förderschule, dann die Werkstatt –, obwohl sie eigentlich auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten wollen. Wir möchten, dass sich dieser Trend umkehrt.

Es kann aus unserer Sicht nicht angehen, dass die Arbeitslosenquote unter schwerbehinderten Menschen mit etwa 15 Prozent mehr als doppelt so hoch ist wie bei nichtbehinderten. Wir halten es deshalb für sehr wichtig, dass Arbeitgeber, Schulen und Behörden Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten nicht länger in Sonderwelten abschieben, sondern ihre Potenziale erkennen und beachten. Nicht Barmherzigkeit, sondern Teilhabe ist es, was behinderte Menschen brauchen. Sie brauchen keine Gnade. Sie haben Rechte.

Welche Vor- und Nachteile sehen Sie in einer gesetzlichen Quotenregelung? Muss es bei gelebter Inklusion noch eine Quote geben?

Christine Lüders: Deutschland ist mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention ganz verbindliche Verpflichtungen für die Inklusion eingegangen. Ich würde mir jetzt erst einmal wünschen, dass die Länder diese Verpflichtungen nun auch einhalten und allen Kindern gemeinsamen Unterricht ermöglichen – auch im Sekundarbereich. Hier sieht es momentan nämlich schlecht aus: Die Quote behinderter Kinder liegt hier nur bei 20 Prozent. Bevor wir eine Quotendebatte führen, muss Deutschland hier seine Hausaufgaben machen!

Viele Menschen, die Förderbedarf wegen einer Lernschwäche haben, möchten nur ungern als „behindert“ bezeichnet werden. Bedarf es überhaupt dieses Etiketts, um Sensibilität und Akzeptanz für das Thema „Lernschwierigkeiten“ zu schaffen und Diskriminierung verhindern zu können?

Christine Lüders: Kürzlich habe ich mich genau über dieses Thema mit einem Menschen unterhalten, der seit Jahrzehnten eine Behinderung hat. Ich habe ihn gefragt: Wie wollen Sie angesprochen werden? Er hat gesagt: Als Mensch. Und als Mensch, der nicht behindert ist, sondern der behindert wird. Das schwingt bei mir seitdem immer mit, wenn ich von „behinderten Menschen“ spreche.

Vielen Dank!

Das Interview führte Eva Jurkewitz.