Diskriminierung wegen Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS)


Sarah* ist heute 27 Jahre alt und hat vor 15 Jahren eine Lerntherapie im Duden Institut gemacht. Nach abgeschlossenem Studium arbeitet sie derzeit an ihrer Promotion. Sie berichtet hier über ihre persönlichen Erfahrungen mit Diskriminierung.


In der Grundschule fiel erstmals auf, dass ich große Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben hatte. Besonders natürlich, wenn in der Klasse ein Text Satz für Satz reihum laut vorgelesen werden sollte. Dennoch haben mich manche Lehrer immer wieder laut vorlesen lassen - scheinbar in der Hoffnung, dass ich dadurch besser würde. Es wurde aber nur schlimmer, da jedes weitere Mal mein Selbstbewusstsein Stück für Stück schrumpfen ließ. Natürlich fanden die anderen es lustig, dass ich nicht gut lesen konnte. Schließlich bläuen Eltern ihren Kindern von klein auf ein, wie wichtig es ist, lesen zu können. So wurde ich oft von meinen Mitschülern gehänselt. Ich habe mich dann meist körperlich gewehrt und mich sogar mit anderen Kindern geprügelt.

Mit der Zeit war zwar einigen Lehrern mein Problem bekannt, sodass ich nicht mehr zum Vorlesen gezwungen wurde. Aber auch bei schriftlichen Tests fiel meine LRS auf. Manche Lehrer zelebrierten die Fehler in Diktaten regelrecht. Dies ging so weit, dass es eine Medaillenvergabe in der Klasse gab: Hier wurde nicht - wie man vermuten könnte - der beste Schüler prämiert, nein, die Schüler mit den meisten Fehlern bekamen Gold, Silber und Bronze verliehen. Dachte man wirklich, dass ich mich dadurch verbessere?

Damals waren Lehrer vermutlich noch viel weniger für das Thema LRS sensibilisiert als heute. In der Oberstufe wurde ich häufig aufgerufen, um meine Hausaufgaben vorzulesen. Viele Lehrer und Mitschüler verstanden nicht, warum mir das Lesen und Schreiben so schwerfiel, obwohl ich doch fehlerfrei sprach. Ich musste mir oft anhören, wie ich es denn überhaupt in die Oberstufe geschafft habe. Andere versuchten mir Gutes zu tun, indem sie lauter sprachen oder das Gesagte mehrmals wiederholten. Manches Mitleid kam mir da auch geheuchelt vor.

Bei der Vergabe der Abiturzeugnisse hat es mich eher gestört, dass betont wurde, ich hätte trotz LRS mein Abitur bestanden. Ich habe mich damals oft in einer ständigen Konkurrenzsituation wiedergefunden, wenn ich für Normalitäten (z. B. eine bestandene Prüfung) besonders gelobt wurde. Wieso werde gerade ich hervorgehoben? Alle anderen haben es auch geschafft. Solange ich eine schlechtere oder gleichwertige Leistung erbrachte, war dies für meine Mitschüler kein Problem. Sobald ich aber bessere Leistungen erzielte, kam von manchen Neid auf und mir wurde vorgeworfen, dass meine Leistung nur deshalb besser eingestuft worden sei, weil ich eine LRS habe.

Um der Diskriminierung auszuweichen, habe ich im Laufe der Zeit Kompensationsstrategien entwickelt, um die Leute in meinem Umfeld nicht direkt auf meine Schwäche aufmerksam zu machen. Denn wenn ich dies offenkundig tun würde, kommen bei vielen weniger aufgeklärten Menschen sofort Vorurteile auf. Wie kann sie es, ohne richtig lesen und schreiben zu können, bis hierher (durch die Schule und Studium) geschafft haben?

Inzwischen habe ich akzeptiert, dass ich eine Lese-Rechtschreib-Schwäche habe, und möchte auch nicht immer darauf hingewiesen werden. Das ständige Hervorheben setzt mich unter großen Druck, etwas ändern zu müssen, was meinen Lernprozess noch weiter behindert.

Zudem habe ich mir therapeutische Hilfe gesucht. Ich brauchte unbedingt den Austausch mit Menschen, die meine Lernschwierigkeiten verstehen, ohne mich zu bemitleiden. Man zweifelt natürlich sehr an sich selbst, wenn man sich mit seinem Problem nicht ernst genommen, sondern allein gelassen fühlt. Die Lerntherapie hat mir sehr dabei geholfen, mein Selbstbewusstsein zu stärken und den notwendigen Anschluss in der Schule zu schaffen, sodass ich inzwischen erfolgreich mein Studium abgeschlossen habe und nun sogar an meiner Promotion arbeite.

Immer wenn ich mich offen zu meiner LRS bekannte, wurde ich natürlich auch angreifbar für meine Schwäche. Während des Studiums meldeten sich manche Kommilitonen, um mich vor allen explizit auf jeden einzelnen Fehler auf meinen PowerPoint-Folien hinzuweisen. Auch im Arbeitsleben wurde mir schon Schludrigkeit vorgeworfen, weil meine Arbeitstexte Fehler enthielten.

Manche haben sich auch getäuscht gefühlt, wenn ich erst nach einiger Zeit meine LRS offenbart habe, um mich anfangs selbst zu schützen. Dabei habe ich niemanden absichtlich täuschen wollen. Ebenso wenig ist meine LRS auf Faulheit zurückzuführen. Bei meinen Vorstellungsgesprächen habe ich vor allem versucht herauszufinden, ob die potenziellen Vorgesetzten und Kollegen über Empathie und Hilfsbereitschaft verfügen, um meine LRS akzeptieren zu können.

Für die Zukunft wünsche ich mir wirklich mehr Aufklärung, zum einen natürlich im Bereich der Schule, aber auch in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht, um das derzeit existierende Halbwissen zu beseitigen. Vielleicht helfen Fernsehberichte oder Kampagnen mit betroffenen Prominenten, um in der breiten Öffentlichkeit zu zeigen, dass es nichts Unnormales ist, eine Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Rechenschwäche zu haben. In der Schule müsste Inklusion umgesetzt werden, sodass die betroffenen Schüler von Beginn an wie normale Menschen behandelt werden, die gleichermaßen selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, ohne ausgegrenzt oder diskriminiert zu werden.

Ich hoffe, dass ich mit meiner Geschichte anderen Betroffenen Mut machen kann. Mit der richtigen Hilfe und Förderung muss eine LRS keine Einschränkung sein, man kann seinen Lebensweg ebenso erfolgreich wie andere bestreiten.

* Name von der Redaktion geändert.