Grammatik – ein Mythos?
Die Rolle der Grammatik beim schulischen Fremdsprachenerwerb wird in allen Schulkategorien nach wie vor recht engagiert diskutiert. Grammatik ist eine Sprache über die Sprache, also eine sog. Metasprache, die sich u. a. durch ein hohes Maß an schwer verständlicher Fachterminologie ausweist. Die Vorschläge der Didaktiker, Neurowissenschaftler, Psycholinguisten und Schulpraktiker, wie man bei Kindern mit Lernschwierigkeiten ein basales grammatisches Regelwissen anbahnen kann, sind oftmals kontrovers. Einerseits werden unverzichtbare grammatische Minimalpensen eingefordert und andererseits mehren sich die Stimmen, dass man auf kognitive Hilfen vollkommen verzichten sollte. Welche Argumente sprechen nun konkret für oder gegen ein grammatisches Regelwissen, das für weniger leistungsstarke Schülerinnen und Schüler hilfreich sein könnte? Oder gilt es schlechthin den Mythos Grammatik radikal zu entzaubern?
Alternativen zur traditionellen Grammatikvermittlung
Das menschliche Gehirn ist permanent bemüht, neu ankommende Informationen geordnet zu verarbeiten. Nun muss man sich überlegen, ob diese mentale Suche nach speicherungswürdigen Mustern (“the human brain is a pattern-seeking device“) nicht doch durch die Reflexion auf grammatische Regelhaftigkeiten unterstützt werden kann. Um lernschwachen Schülerinnen und Schülern diese Reflexion zu erleichtern, müssen vielleicht besondere Verfahren zum Einsatz kommen, die ihnen die nötigen Einsichten in das fremdsprachliche System ermöglichen.
Die Annahme, dass eine Fremdsprache (L2) auf die gleiche Art und Weise wie die Muttersprache (L1) erworben werden könne, hat sich als Irrtum erwiesen. Wenn der Erstsprachenerwerb anlagenspezifisch intuitiv verläuft (privilegiertes Lernen), gibt es für den schulischen Fremdsprachenerwerb keine genetisch fixierten Dispositionen. Das Lernen verläuft hier völlig anders, also nicht privilegiert. Deswegen ist alles schulische Lernen einer Fremdsprache anspruchsvoll und hochgradig zeitaufwendig. Um die fehlende Sensibilisierung für grammatische Probleme bei weniger leistungsstarken Schülerinnen und Schülern auszugleichen, sollten alternative Verfahren im Unterricht zum Einsatz kommen, die durch die Aktivierung anderer Gehirnareale ebenso zum Lernerfolg führen.
Bewährte Beispiele aus der Unterrichtspraxis
Alles Lernen unter Zeitdruck ist Stress auslösend und damit lernhemmend. Es müssen folglich effektive lernstressreduzierenden Maßnahmen ergriffen werden, die basal kognitiv, emotional und situativ für die weniger begabten Fremdsprachenlerner hilfreich sein können. Die folgenden methodischen Varianten haben sich in der Praxis bestens bewährt.
Inszenierung einer grammatischen Struktur
Empfehlenswert sind dramapädagogische Inszenierungen einer grammatischen Struktur, die im „autobiografischen“ Gedächtnis einfach zu speichern sind. In einer lebensnah imitierten Lernepisode erkennen die Lernenden beispielsweise die Funktion des Simple Past (über Vergangenes sprechen).
Teacher: Why are you late again? Tell me. Pupil 1: Sorry Miss. I forgot to set the alarm clock. Pupil 2: Sorry Miss. My dog followed me. I had to take him back home. Pupil 3: Sorry Miss. My mum’s car broke down.
Die Beispiele werden interaktiv präsentiert und kooperativ eingeübt. Sie beziehen sich immer auf die Person des Sprechers, ein Grundprinzip der personalisierten Grammatik (personal grammar). Das metasprachliche Erklärungsvokabular ist durch eine transparente Begrifflichkeit ersetzt. Die Verbform „Simple Past“ wird beispielsweise ersetzt durch den Begriff „Erzählvergangenheit, für die man immer das Verb aus der 2. Spalte braucht“.
Effektive Visualisierungen
Dort, wo die Wortsprache ihre Grenzen hat, beginnt der Einsatz der Visualisierung. Komplexe Strukturen werden mithilfe von Witzen, Graffiti, Fotos, Werbung, surrealistischen Bildern, optischen Täuschungen oder einem lustigen Cartoon lernergerecht „entschärft“. Das grammatische Problem „Substantivierung der Possessivpronomina“ löst sich beispielsweise mit Humor, denn “School is good when laughter is frequent” – eine alte Weisheit.
Ersatz für komplexe Strukturen
Vor allem im Mündlichen ist der spontane Zugriff auf situationsadäquate sprachliche Mittel essenziell. Es besteht aber wenig Zeit für die Sprechenden zur systematischen Durchforstung ihrer Wortschatz- und Formeninventare. Deshalb sind gerade für Schüler und Schülerinnen mit Lernschwächen entsprechende Vereinfachungen unumgänglich, z. B.:
<li>I did my homework and then I left the house.
anstatt After I had done my homework I left the house.
Grundsätzlich ist im Einzelfall genau zu überlegen, ob für lernschwächere Schülerinnen und Schüler grammatische Erklärungsprozeduren überhaupt sinnvoll sind. Die folgenden Redemittel werden weitaus leichter und nachhaltiger gespeichert, wenn sie über Geläufigkeitsroutinen eingeübt werden, z. B.:
Alternative Vermittlungsmethoden
Eine grammatische Regelhaftigkeit wird den Lernenden auch intuitiv durch Bewegung oder konkretes Tun transparent, z. B.:
Fazit
Einsichten in das fremdsprachliche System sind auch für Schülerinnen und Schüler mit Lernproblemen durchaus möglich, wenn man die entsprechenden Werkzeuge zum Einsatz bringt.
Dr. Werner Kieweg - akademischer Direktor a. D. an der Ludwig-Maximilian-Universität in München, Lehrwerksautor, Mitherausgeber der Zeitschrift "Der fremdsprachliche Unterricht - Englisch", Fortbildungsreferent, Autor von zahlreichen Fachartikeln und Fachbüchern.