Fördern, fordern, überfordern…

Einige Überlegungen zu Förderangeboten in den Schulferien

von Dr. Lorenz Huck, Leiter des Fachbereichs "Interdiziplinäre Integration"

„In den Ferien für die Schule lernen? Das ist ja wie eine Strafe!“
Viele Eltern sind skeptisch, wenn es um die außerschulische Förderung ihrer Kinder geht.
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Und sie sind es völlig zu Recht. Das zeigt u.a. das Beispiel Japan.
Dort besuchen zwei Drittel aller Schüler/innen private Nachhilfeschulen (sogenannte „Juku“), um sich auf schulische Prüfungen vorzubereiten: Nicht nur in der regulären Schulzeit – oft bis in die späten Abendstunden hinein – , sondern auch während der kompletten Ferien.

„Ich kann mich nicht daran erinnern, in meiner Kindheit je einen Comic gelesen zu haben oder mit Freundinnen ins Kino gegangen zu sein“, sagt die japanische Studentin Sakura im Gespräch mit der ZEIT (15.8.2007). „Fakten, Daten, Vokabeln. Man lernt nichts anderes, keine Hintergründe, keine allgemeinbildenden Grundlagen. Ich habe zehn Jahre Englisch gelernt, kenne die Grammatik. Eine Konversation führen oder einen Film anschauen, könnte ich damit jedoch nicht.“

Nicht nur aus europäischer Sicht sind Juku der Inbegriff der Überforderung von Kindern und Jugendlichen: „Laßt unseren Kindern ihre Jugend“ war schon Ende der 1980er Jahre ein Kommentar der Tageszeitung „Asahi“ zu den Paukschulen überschrieben (SPIEGEL, 51,1989).

Wissenschaftler/innen ziehen einen Zusammenhang zwischen ständiger Überlastung mit schulischen Anforderungen und einem grundlegenden Gefühl von Unlust und Apathie, das wiederum die wichtigste Ursache für das spezielle japanische Problem der „futoko“ ist (dt. etwa: Schulverweigerung; vgl. Shoko, The Language Teacher, 10, 2001).

So berechtigt also die Sorgen der Eltern sind, die ihre Kinder nicht durch außerschulische Förderung überfordern wollen, muss man doch andererseits sagen: Ohne Überforderung lernt man nichts.

Auf der inhaltlichen Ebene stimmt dies ohnehin: Lew S. Wygotski, der Klassiker der Pädagogischen Psychologie, formulierte schon früh: „Nur der Unterricht ist gut, der der Entwicklung des Kindes vorauseilt!“ (Denken und Sprechen, 1974, .S. 302). Sein Gedanke war, dass Didaktik und Pädagogik nicht in der „Zone der aktuellen Entwicklung“ des Kindes anzusetzen hätten, bei dem, was es selbständig zu leisten in der Lage ist, sondern in der „Zone der nächsten Entwicklung“, bei dem, was das Kind zunächst nur mit Hilfe kann.
So gesehen wäre Didaktik die Kunst, Kinder richtig zu überfordern.

Auch wenn man die unmittelbar fachliche Ebene verlässt, hat Lernen wohl immer etwas mit Überforderung zu tun: Es sind langfristige Pläne zu entwerfen und gegen aktuelle Unlustgefühle einzuhalten, die Aufmerksamkeit muss immer wieder auf das anstehende Thema gelenkt – möglicherweise müssen auch Ängste überwunden werden.

Und es ist vielleicht wichtig, sich klar zu machen, dass all dies auch außerhalb des schulischen Kontextes gilt. Egal, was ich lernen will: Schwedisch, Bachs Goldbergvariationen, laufen wie ein Topmodel…– ich muss mir das zum Ziel setzen, was ich noch nicht kann, und mich anstrengen, um mein Ziel zu erreichen.

Unter welchen Umständen ist also zusätzliche Förderung in den Schulferien sinnvoll?

Ich sehe drei wesentliche Bedingungen:

  • Das betroffene Kind muss einsehen, warum eine Anforderung sinnvoll ist und einverstanden sein, sich ihr zu stellen. (Das ist in der Regel der Fall, wenn es einen Zusammenhang der angebotenen Inhalte zur eigenen Lebens- und Erfahrungswelt sieht.)
  • Die Anforderungen dürfen nicht trivial, müssen aber (mit Hilfe) zu bewältigen sein.
  • Phasen des Lernens, der konzentrierten Arbeit, der Anspannung, müssen Phasen der Entspannung, des freien Ausprobierens und der Erholung gegenüberstehen.

In unseren Intensivtherapien in den Ferien versuchen wir diesen Überlegungen Rechnung zu tragen:

  • indem wir die Kinder, wo immer möglich, in die Gestaltung der Therapie einbeziehen und Ziele mit ihnen besprechen;
  • indem wir versuchen, den Entwicklungsstand der Kinder möglichst genau zu erfassen und Anforderungen daran anzupassen;
  • indem wir Kindern in der Therapie Freiräume lassen, Zusammenhänge selbst zu entdecken, Pausen und Spiele integrieren – und nur eine von sechs Sommerferienwochen, nur drei Stunden eines Ferientages für die Therapie nutzen.

Meist stellen die Eltern schon nach dem ersten Tag fest, dass ihre Kinder hoch motiviert in die Therapie gehen. Und nicht selten wünschen sich sogar die Kinder eine weiteren Intensivkurs in den nächsten Ferien.