Lese-Rechtschreib-Schwäche

Schriftspracherwerb bei zwei- und mehrsprachigen Kindern

Risikofaktoren und Potenziale

Von Dr. Annegret Klassert, Forschungsgruppe Heterogenität und Inklusion, Universität Potsdam, Mitarbeiterin am Zentrum für angewandte Patho- und Psycholinguistik (ZAPP), Potsdam, und PD Julia Festman, Ph. D., Forschungsgruppe Heterogenität und Inklusion, Universität Potsdam, Vertretungsprofessorin für Empirische Kindheitsforschung, Universität Potsdam

Leistungsunterschiede aufgrund von Mehrsprachigkeit?

Die großen Schulleistungsstudien wie PISA oder IGLU, aber auch wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass Kinder mit einer anderen Familiensprache als Deutsch, also zwei- und mehrsprachige Kinder mit Migrationshintergrund, geringere Fähigkeiten im Lesen und Schreiben haben als einsprachige deutsche Kinder.

Mittlerweile hat sich allerdings auch die Erkenntnis durchgesetzt, dass die beobachteten Unterschiede zu einem großen Teil auf soziale und kulturelle Unterschiede zurückzuführen sind. Die Kinder mit einer anderen Familiensprache haben als Gruppe diesbezüglich einen ungünstigeren Hintergrund, was nichts mit der Familiensprache zu tun hat, sondern mit der Zusammensetzung der Bevölkerung mit Migrationshintergrund und ihrer Lebensrealität hier in Deutschland.

Ein genauerer Blick auf den Wortschatz

Eine weitere Besonderheit zwei- und mehrsprachiger Kinder ist, dass sie in ihren Einzelsprachen einen geringeren Wortschatz haben als einsprachige Kinder. Dies ist nicht verwunderlich. Schließlich müssen sie ja mindestens doppelt so viele Wörter lernen. Außerdem erfolgt der Kontakt mit den einzelnen Sprachen häufig in verteilten Kontexten, z. B. mit der Familiensprache im häuslichen Umfeld sowie mit der Umgebungssprache Deutsch im schulischen Umfeld, sodass die Kinder situationsspezifische Wortschätze in den Einzelsprachen aufbauen. Diese Wortschatzunterschiede zu einsprachigen Kindern sind natürlich individuell von der Dauer und der Menge des Kontakts mit der jeweiligen Sprache und der Bedeutung der einzelnen Sprachen im Leben des Kindes geprägt. Übrigens haben zwei- und mehrsprachige Kinder einen größeren Wortschatz als einsprachige Kinder, wenn man den Wortschatz all ihrer Sprachen für den Vergleich zusammenzählt.

Bei genauer Untersuchung der Ursachen für die geringeren Schreib- und Leseleistungen mehrsprachiger Kinder spielt der Wortschatz eine entscheidende Rolle, denn das Schreiben, Lesen und Verstehen von Wörtern ist natürlich eng mit dem lautsprachlichen Wortschatz verbunden, den man sich in der Sprache, in der man die Schriftsprache erwirbt, bereits angeeignet hat. Wenn man ein Wort im Langzeitgedächtnis bereits abgespeichert hat, dann kann man diesen Eintrag zur Verschriftlichung nutzen und entlastet so sein Verarbeitungssystem. Auch beim Leseverstehen liegt es natürlich auf der Hand, dass man nur Wörter verstehen kann, die man bereits erworben hat.

RaSch-Studie

In der RaSch-Studie (Rahmenbedingungen des Schriftspracherwerbs) hat sich die Forschungsgruppe Heterogenität und Inklusion der Universität Potsdam (www.uni-potsdam.de/fghi/index.html) u. a. intensiv mit dem Einfluss von Mehrsprachigkeit auf Lese-und Schreibfähigkeiten beschäftigt. Knapp 170 Drittklässler (ein-, zwei- und dreisprachige Kinder) wurden an drei Schulen im Großraum Berlin und an verschiedenen Standorten der Duden Institute für Lerntherapie getestet. Dabei wurde nicht nur der Wortschatz im Deutschen untersucht, sondern auch das Lesen und Schreiben von echten Wörtern (z. B. Schokoladenmann) und erfundenen Wörtern (z. B. kimalu).

Untersucht man die Lese- und Schreibfähigkeiten unabhängig vom Wortschatz in einer bestimmten Sprache, wie im Fall der erfundenen Wörter, findet man keine Unterschiede mehr zwischen ein- und mehrsprachigen Kindern. Für den Erwerb der grundlegenden lautbasierten Lese- und Schreibfähigkeiten bedeutet also ein durch mehrsprachiges Aufwachsen bedingter geringerer Wortschatz in der Schulsprache keinen Nachteil.

Hinweise zur Wortschatzförderung

Es kann davon ausgegangen werden, dass die Wortschatzförderung eine entscheidende Maßnahme ist, wenn Kinder mit geringen Sprachkenntnissen des Deutschen Probleme im Schriftspracherwerb haben. Spezifisch auf das Schreiben bezogen scheint es sinnvoll, direkt an den Fehlern eines Kindes zur Wortschatzförderung anzusetzen. Schreibt das Kind z. B. „benkhen“ anstatt „bequem“, weist das darauf hin, dass das Kind das Wort gar nicht oder nicht sicher erworben hat. Es sollten zusätzlich zur Vermittlung orthografischer Regeln mit dem Kind auch die genaue Lautstruktur und die zugehörige Bedeutung erarbeitet und gefestigt werden.

Gleichzeitig sollte das Lesen, ein sehr wichtiger Faktor für die Wortschatzentwicklung bei allen Kindern, direkt für die Wortschatzförderung eingesetzt werden. Es können z. B. Strategien für die Erschließung von Bedeutungen unbekannter Wörter vermittelt werden. Dem quantitativen situationsspezifischen Wortschatzausbau kommt generell eine sehr große Bedeutung zu, denn ein größeres Lexikon erhöht natürlich generell die Chance, ein zu schreibendes oder zu lesendes Wort dort bereits abgespeichert zu haben. Außerdem strukturiert sich ein großes Lexikon u. a. nach lautlichen Aspekten so, dass automatisch die für das Lesen und Schreiben nötige Analyse der Lautform eines Wortes erleichtert wird.

Rolle der Familiensprache und der Umgebungssprache

Allerdings ist hervorzuheben, dass sehr wichtige Motoren für den Wortschatzausbau in einer Sprache die Motivation und der Umgang mit Gleichaltrigen sind. Das bedeutet, es ist wünschenswert, dass mehrsprachige Kinder in einer Umgebung in die Schule gehen, in der das Deutsche von vielen gleichaltrigen Kindern auf muttersprachlichem Niveau gesprochen wird, es eine die Herkunftssprache und -kultur anerkennende Atmosphäre gibt (denn nur, wenn man sich angenommen fühlt, kann man auch anderes annehmen) und das Lesen außerhalb des Unterrichts unterstützt wird.

Damit soll abschließend auch noch mal hervorgehoben werden, dass es irreführend ist, die andere Familiensprache als Ursache der schulischen Probleme der Kinder herauszustellen. Mehrsprachiges Aufwachsen ist keine Schraube, an der sich einfach drehen lässt, sondern eine natürlich vorgegebene Realität und im Übrigen weltweit der Normalfall. Im Gegenteil sollten Eltern immer bestärkt werden, mit ihrem Kind die Sprache zu sprechen, die sie selbst am besten beherrschen. So können sie die Sprachentwicklung und insbesondere auch die emotionale und soziale Entwicklung ihres Kindes am besten unterstützen.

Literatur Informationen auf der Website der Universität Potsdam (Potsdam Research Institute for Multilingualism)