Fragen zur erfolgreichen Gestaltung eines sprachsensiblen Unterrichts an Dr. David Gerlach, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Philipps-Universität Marburg am Fachbereich Erziehungswissenschaften / Institut für Schulpädagogik in der AG Fremdsprachenforschung
Viele Klassen setzen sich heute sehr heterogen aus Schülerinnen und Schülern mit vielen verschiedenen Muttersprachen zusammen. Welche Herausforderung ergibt sich daraus für die Unterrichtsgestaltung?
Gerlach: Zum einen muss natürlich erst einmal gesichert sein, dass die Zielsprache an sich (und das ist ja in der Regel Deutsch) ausreichend beherrscht wird. Das bedeutet, wir brauchen eine sehr gute basale Sprachförderung, die die Kommunikation und das Verstehen fördert. Wenn wir dann in den Unterricht schauen, spielt Sprache eine große Rolle – und zwar auf verschiedenen Abstraktionsebenen. Das Ziel schulischer Bildung ist nämlich nicht, Umgangs- oder Alltagssprache zu fördern, wie sie die Schülerinnen und Schüler überwiegend in ihrem privaten Alltag nutzen.
In Bildungsprozessen wird viel Wert auf die Förderung inhaltsbezogener, d. h. häufig fachspezifischer Fachsprache gelegt und, auf einer anderen Abstraktionsebene, auf die sogenannte Bildungssprache. Dies sind insbesondere Wendungen und Elemente, mit denen ein gewisser inhaltlicher Anspruch und eine Durchdringung von schulischen Inhalten in allen Fächern gewährleistet werden soll – also auch im Transfer über verschiedene Fächer hinweg. Und dies kann z. B. über einen sprachsensibel gestalteten Unterricht gewährleistet werden.
Ein sprachsensibler Unterricht umfasst also alle Fächer, nicht nur das Fach Deutsch. Welche Aspekte sind besonders wichtig, um das Fachwissen erfolgreich und „sprachsensibel“ zu vermitteln?
Gerlach: Es hat sich in der Tat bewährt, ein reflexives Bewusstsein für Sprache in den einzelnen Fächern zu entwickeln, also „sprachsensibel“ zu unterrichten und zu schauen, inwiefern ein Unterrichtsgegenstand sprachlich, methodisch und inhaltlich heruntergebrochen werden kann.
Fremdsprachendidaktisch stammt das Konzept aus der Forschung zu bilingualem Unterricht und nennt sich Scaffolding: Es geht also darum, ein Gerüst um den Unterrichtsgegenstand zu bauen, das das Lernen stützen kann. Sprachliches Scaffolding kann z. B. so aussehen, dass ein Phänomen aus der Physik zunächst mit alltagssprachlichen Wendungen beschrieben werden soll, dann einzelne Fachbegriffe eingeführt werden, z. B. mit einem Experiment verknüpft, um es abschließend – und das wäre in dem Fall die sprachlich höchste Stufe – in der Fachsprache z. B. im Rahmen eines Protokolls zu erklären. Dieses Vorgehen kann zusätzlich mit sprachsensiblem Material – z. B. ausgerichtet auf andere Muttersprachen – unterstützt werden.
Sprachsensibel kann dann auch heißen, das Vorwissen und andere Konzepte der Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte mit einzubeziehen. Dies wird in diesem Fall bedeutsam, wenn westliche Konzepte oder Terminologien insbesondere in gesellschaftswissenschaftlichen Fächern fremd sind.
Welche Rolle spielt das Lesen und Schreiben, also der Erwerb der deutschen Schriftsprache, im sprachsensiblen Unterricht?
Gerlach: Wenn man sich die Situation der geflüchteten Schülerinnen und Schüler in unseren Schulen anschaut, erkennt man schnell, dass das eigentliche Deutschlernen im kommunikativen Sinne (auch bezogen auf den Wortschatz) recht zügig vonstattengeht. Die Motivation ist da meiner Erfahrung nach sehr hoch.
Mit der Schriftsprache tun sich viele allerdings schwer. Manche Kinder sind vorher nie alphabetisiert worden, kennen auf Grundlage ihrer Erstsprache und deren Schriftsprache andere Laut-Buchstaben-Zuordnungen oder nur das arabische Alphabet. Wenn hier nicht genau geschaut wird, welche – positiv gewendet – Lerngelegenheiten gerade im Schulunterricht genutzt werden müssen, kann eine wesentliche Säule für den schulischen Erfolg, die Schriftsprache, tatsächlich zum beschränkenden Faktor werden.
Heißt das im Umkehrschluss: Gute Lese- und Schreibkenntnisse sind eine Voraussetzung für den Erwerb der sogenannten Bildungssprache?
Gerlach: Wenn das Ziel in Schulen eine inhaltliche Durchdringung der Fächer sowie sprachliche Bildung sein soll, sind gute Lese- und Schreibkenntnisse elementar, ganz klar. Dies setzt aber ebenso voraus, dass allgemein kommunikative sowie fachspezifisch-methodische Fertigkeiten im Unterricht trainiert werden: Wie können Schülerinnen und Schüler sich komplexe Illustrationen in Geschichtsschulbüchern erschließen? Was gehört dazu, eine Versuchsanordnung zu lesen und sie mit den Hilfsmitteln im Biologieunterricht umsetzen und beschreiben zu können?
Auf sprachlicher Ebene kann in allen Fächern ein Beitrag zur allgemeinen Sprachförderung geleistet werden. Das sprichwörtliche „Rad“ im bildungssprachlichen Sinne muss nicht für jedes Fach „neu erfunden“ werden. Allein die Integration und Koordination innerhalb einer Schule ist hier der begrenzende Faktor. Letztlich haben aber nicht nur die Lernenden einen Vorteil davon, sondern auch alle Lehrkräfte, die ihre sprachliche Lehrkompetenz ernst nehmen und damit auch von sprachlichen Fertigkeiten ihrer Lernenden aus anderen Fächern profitieren.
Es fragte Astrid Schröder