Lese-Rechtschreib-Schwäche

Zeit zum Vorlesen!

Sechs Tipps, wie Eltern Hemmungen beim Vorlesen überwinden können.

Von Dr. Christiane Wotschack

Vorlesen ist eine wunderbare Möglichkeit, die Sprachentwicklung von Kindern zu fördern, ihre Fantasie anzuregen und eine enge Bindung aufzubauen. Laut aktuellem Vorlesemonitor 2023 der Stiftung Lesen erleben in Deutschland knapp 37 % der Kinder im Alter von ein bis acht Jahren selten oder gar kein Vorlesen. Die Ergebnisse zeigen zudem, dass das Vorleseverhalten der Eltern häufig mit den eigenen positiven Erfahrungen in der Kindheit zusammenhängen: Wurde den Eltern selbst vorgelesen, führen sie diese Tradition mit ihren eigenen Kindern fort. Viele Eltern und Erwachsene scheuen sich davor, obwohl sie wissen, wie wichtig das Vorlesen für die Entwicklung ihrer Kinder ist. Sechs Gründe, die eine Hürde für das Vorlesen sein könnten, lassen sich mit praktischen Tipps entkräften, sodass das Vorlesen zu einer bereichernden und angenehmen Erfahrung werden kann:

Tipp 1: Ich habe keine Zeit.

Für das Vorlesen ist nicht die Dauer, sondern die Häufigkeit wichtig. Regelmäßige, kurze Vorlesezeiten können leicht in den Tagesablauf integriert werden, z. B. vor dem Schlafengehen, während der Busfahrt oder beim Warten im Sprechzimmer. Ein paar Minuten täglich reichen oft aus, um eine positive Gewohnheit zu entwickeln und wertvolle gemeinsame Zeit mit ihrem Kind zu schaffen. Von dieser kurzen Entspannungszeit können auch Sie selbst profitieren.

Tipp 2: Vorlesen ist nur für Kleinkinder.

Vorlesen ist nicht nur für kleine Kinder bereichernd. Insbesondere in der ersten Phase des Lesenlernens ist das gemeinsame Vorlesen wichtig, da das Kind selbst noch stark mit dem Erlernen der Lesetechnik beschäftigt ist, was das selbstständige Lesen verlangsamt und zu Frustration führen kann. Im Gegensatz zum Vorlesen in der Schule können Sie zu Hause ganz individuell auf die Bedürfnisse Ihres Kindes eingehen. Auch ältere Kinder profitieren vom Vorlesen, da komplexere Geschichten und Wortschatz erklärt und diskutiert werden können. Es fördert die Sprachentwicklung, das Leseverständnis und stärkt die Bindung zwischen Ihnen und Ihrem Kind. Achten Sie zudem darauf, Bücher anzubieten, die dem Alter und den Interessen Ihres Kindes entsprechen, z. B. Bilderbücher für Kleinkinder, einfache Geschichten für Vorschulkinder und komplexere Erzählungen für ältere Kinder.

Tipp 3: Ich kann nicht gut vorlesen.

Durch den Einsatz von Ausdruck, verschiedene Stimmen und Betonungen sowie Mimik und Gestik kann eine Geschichte noch lebendiger und spannender gestaltet werden. Dies ist aber kein Muss. Ihr Kind hört am liebsten die Stimme seiner Eltern und kann sich dabei gut entspannen. Sie müssen also nicht schauspielern, sondern können getrost mit der normalen Sprechstimme vorlesen und schenken dadurch Nähe.

Tipp 4: Ich habe eine andere Herkunftssprache.

Eltern sollten unbedingt in der Sprache vorlesen, in der sie sich selbst am sichersten fühlen. Bei der Sprachförderung und dem Erwerb der Familiensprache spielt das Vorlesen in der Muttersprache eine ebenso wichtige Rolle. Der Zugang zu Geschichten und zum eigenen Lesen wird auch durch das Vorlesen in einer anderen Sprache als in Deutsch gefördert. Eine besondere Möglichkeit zum gemeinsamen Vorlesen liegt in mehrsprachigen Büchern und Vorleseangeboten.

Tipp 5: Mein Kind ist zu unruhig.

Es gibt keine starren Regeln beim Vorlesen. Sorgen Sie für eine ruhige und gemütliche Umgebung, in der sich Ihr Kind wohlfühlt und nicht abgelenkt ist. Das kann ein gemütlicher Leseplatz sein oder einfach eine Kuscheldecke. Wenn das Kind unterbricht und Fragen stellt, ist dies ein Zeichen von Interesse. Beantworten Sie die Fragen, erklären Sie unbekannte Wörter und bleiben Sie flexibel. Das Vorlesen darf auch einfach zu einem Gespräch führen. Beziehen Sie das Kind aktiv in die Auswahl der Lektüre ein. Wenn es den „Lesestoff“ aussuchen darf, steigt seine Motivation und Freude am Vorlesen, da es Geschichten erlebt und Dinge erfährt, die ihm gefallen.

Tipp 6: Ich weiß nicht, was ich vorlesen soll.

Jedes Kind ist und liest anders, entsprechend variieren die Vorlieben zwischen Comic, Zeitschriften, Roman, Sachbuch, Kinderkrimi oder Detektivgeschichte, E-Book usw. Anregungen und Empfehlungen zu alters- und themenspezifischen Kinder- und Jugendbüchern finden Sie in Buchhandlungen und Bibliotheken oder auch z. B. bei der Stiftung Lesen. Insbesondere wenn Sie das Lieblingsbuch gerade nicht dabeihaben, bieten sich kostenlose digitale Vorleseangebote wie auf www.einfachvorlesen.de oder Online-Angebote von Kinder- und Jugendzeitschriften als Ergänzung an.

Zur Autorin:

Dr. Christiane Wotschack ist Leiterin des Fachbereichs Praxis der Duden Institute für Lerntherapie.